Mein erster Tag als Diabetiker war der 12. März 1964, ich war 17. Soeben war in der Praxis ein Wert über 500 festgestellt worden. Mutter begleitete mich in der Abenddämmerung auf dem langen Fußweg ins Landshuter Krankenhaus. “Mein Gott, was hab ich verbrochen, dass mein Bub so krank ist!“ klagte sie. Mein Bett war das siebente in einem 6-Bett Zimmer, es stand in der Mitte des Raums. Die Patienten waren durchwegs alte Männer, die mich sogleich bedauerten. Eine Unterscheidung zwischen Diabetes Typ 1 und Typ 2 kannte man nicht. Selbst die Ärzte sprachen bei der Visite nur von Zuckerkrankheit.
Schon am ersten Abend nahmen mir die Alten jede Hoffnung auf ein ertragbares Leben. „A Frau kriagt der amoi ned.“ Zum Glück kam ein Pfleger. „Mitkommen!“ Er führte mich auf die Männertoilette. Dort standen in meterlangen Wandregalen etwa 50 Glaskrüge, die mit Urin in unterschiedlichen Färbungen von rötlich bis farblos gefüllt waren. Die Krüge waren mit den Namen der Patienten beschriftet. „Do bieselst eine und dann stellstas wieda ins Regal. Ja nix vaschüttn, weil i des messen muaß. Verstanden?“ Ich konnte bloß nicken.
Am zweiten Tag musste ich mir unter Anleitung die erste Spritze geben. Sie hatte einen Glaskolben und eine dicke Nadel, eine „Zwölfer“ – etwa 4 cm lang. Ganz wichtig war das kurze Zurückziehen des Stempels, um zu testen, ob etwa ein Blutgefäß angestochen worden war. Beim Umgreifen zum Stempel entglitt mir der schwere Glaskolben, die lange Nadel schnellte unter der Haut nach oben, ich hörte, wie das Gewebe unter der Haut zerriss. Die Schwester musste übernehmen, ich weinte bloß noch.
Die Geschichte ist hart, deshalb im Folgenden nur Positives:
Es war 1978, ich war Lehrer am Gymnasium Neutraubling, der einzige Angestellte mit Beamten, nachdem der Staat mich wegen meiner Krankheit nicht verbeamten wollte. Nach 4 Berufsjahren wollte ich eigentlich damals gar kein Beamter mehr werden, zu oft hatte ich mir die Witze und hämischen Bemerkungen über Beamte angehört. Der Schulleiter Ernst Mayr redete mir gut zu, ich solle doch die Verbeamtung beantragen, ein Versuch sei es wert, allein schon wegen Frau und Baby zu Hause.
Schließlich wandte ich mich am 7.2.1978 an Professor Mehnert, der mir sofort seine Hilfe schenkte. Prof. Mehnert schrieb insgesamt 3 Gutachten – die staatlichen Behörden forderten mehrmals Nachträge und Einzelheiten. Seine Unterstützung führte zum Erfolg! Der letzte Brief von Professor Mehnert, ein Glückwunsch, kam ein Jahr später, am 29.1.1979. Hier nur zwei Zitate aus dem Brief, die zeigen, wie empathisch und eng Herr Mehnert mit Patienten umging: „Sehr geehrter, lieber Herr B“ und „Sie wissen, daß Sie stets mit mir rechnen können.“ Vielleicht wurde ich so einer der ersten verbeamteten Lehrer in Bayern.
Professor Mehnert setzte sich nicht nur für mich, sondern auch weiterhin für die entsprechenden gesellschaftspolitischen Belange von uns Diabetikern ein. In meiner Zeit in der Schule lernte ich immer wieder Schülerinnen und Schüler kennen, die zusammen mit ihren Eltern überrascht und erfreut waren, einen älteren Diabetiker zu treffen, der sein Leben gut bewältigen konnte, der ihr Ansprechpartner wurde und der, wie sie, mit Broteinheiten und Hypos zu tun hatte. Heute bin ich glücklich und zufrieden mit meiner Pumpe und nach vielen Jahren mit ICT-Therapie. Ich bin verheiratet, mein 50-jähiger Sohn ist kein Diabetiker.