Wenn man 50 Jahre mit jemandem zusammen ist, dann verbindet man damit zumeist die „Goldene Hochzeit“. So gesehen haben mein Diabetes und ich im letzten Jahr (2022) unsere Goldene Hochzeit „gefeiert“. Nun denkt man bei einer Goldenen Hochzeit gleichzeitig meistens aber auch an eine Verbindung aus Liebe, Zuneigung und Vertrauen. War es das bei mir und meinem Diabetes in den letzten 50 Jahren? Ich möchte die Antwort gerne am Schluss meiner Geschichte geben.
Nachdem ich schon seit einigen Wochen nach dem Spielen mit meinen Freunden immer öfters schlapp und erschöpft war, verbunden mit starkem Durst auch in der Nacht, kam der Tag, an dem ich nach dem Spielen kaum noch ansprechbar und völlig erschöpft nach oben kam.
1972 erhielten meine Eltern vom Kinderarzt dann die Diagnose „Ihr Kind hat Diabetes Typ I“. Ich war damals fünf Jahre alt. Für meine Eltern brach damals -Gott sei Dank- keine Welt zusammen, denn zwei Jahre zuvor hatte mein zwei Jahre älterer Bruder einen schweren Verkehrsunfall, bei dem er fast gestorben wäre. Ich denke, dies hat meine Eltern so geprägt und mental gefestigt, dass die Diagnose zu meinem Diabetes sie nicht aus der Bahn geworfen hat. Heute würde man dies wahrscheinlich „Resilient“ nennen.
Nun kennt der eine oder andere vielleicht (noch) die Behandlung eines Diabetes Typ I im Jahr 1972. Das hat mit der heutigen Therapie nichts mehr gemein: Glaskolbenspritzen, die nach jeder Benutzung ausgekocht und sterilisiert werden mussten, sowie lange und dicke Nadeln. Also alles, was bei einem fünfjährigen Kind, keinerlei positiven Assoziationen auslöst. Darüber hinaus so gut wie keine Möglichkeiten, den Blutzuckerspiegel zu testen.
Und das Insulin, das es damals gab, war das sogenannte Depot-Insulin. So wie es hieß, so wurde es auch ge-/benutzt. Ein Insulin-Depot wurde entsprechend der Menge des gespritzten Insulins angelegt und dann entsprechend einem strengen Diätplan „verbraucht“. Zucker in Form von Süßigkeiten, das kann man ruhig so sagen, war tabu. Denn damit konnte das Depot-Insulin nicht umgehen.
Wir wohnten damals noch in Böblingen bei Stuttgart. Ein Jahr später sind wir dann aus Berufsgründen meines Vaters nach München gezogen. Und hier kam ich dann am Schwabinger Krankenhaus zum ersten mal mit Prof. Mehnert und seinem Team in Kontakt. Auch mit ihm persönlich hatten meine Mutter und ich zahlreiche Kontakte in den regelmäßigen ambulanten Diabetes-Sprechstunden.
Es war schon sehr beeindruckend, wie er und sein Team sich dem Thema Diabestes verschrieben und sich maßgeblich für uns Diabetiker eingesetzt haben.
Es blieb bei mir nicht bei den regelmäßigen Besuchen in der ambulanten Sprechstunden, denn immer wieder mal musste ich zur Einstellung auch stationär aufgenommen werden und dort dann 1-2 Wochen bleiben.
Auch wenn es lange her ist, ich erinnere mich an viele dieser Aufenthalte noch gut. Ich habe viel gelernt in dieser Zeit: durch spezielle Diabetes-Schulungen, durch andere Kinder, die ebenfalls auf meiner Station waren aber auch durch viele Gespräche mit Ärzten, dem medizinischen Personal sowie vor allem durch viele andere Patienten im Krankenhaus, die mir klar gemacht haben, dass es mir vielleicht nicht „wirklich gut“ geht, daß es aber viele Erkrankungen gibt, durch die es den Patienten noch viel schlechter geht als mir. Das mag zwar oft nur ein schwacher Trost gewesen sein, aber es hat sich irgendwie auf meiner Festplatte eingebrannt.
So gingen die Jahre einher, und ich habe mich in dieser Zeit eigentlich nie wirklich von meinem Diabetes einschüchtern lassen. Ich habe alles gemacht, was meine Schulkamerad*innen auch gemacht haben. Ich war eine Woche in Frankreich bei einem Schüleraustausch in der Nähe von Lyon, ich war bei Klassenfahrten ins Elsass sowie ins südliche Italien – und irgendwie hat es trotz zahlreicher „Restriktionen“ immer gut geklappt.
Vielleicht war das auch ein Grund, warum meine Eltern relativ entspannt waren, als ich 1992 während des Studiums die Möglichkeit hatte für 3,5 Monate nach Südafrika zu gehen, um dort bei einem bayerischen Autobauer ein Praktikum zu absolvieren. In dieser Zeit war ich in Südafrika, in Namibia, Zimbabwe und Zambia. Die größte Herausforderung, die ich in dieser Zeit hatte, war, einen Zöllner am Flughafen in Johannesburg davon zu überzeugen, dass mein relativ großer Extragepäck-Koffer voller Spritzen und sonstigem Equipment wirklich auf Diabetesbedarf und nicht auf Drogenkonsum zurückzuführen ist. Es hat mich einigen Überzeugungsaufwand gekostet, aber letztendlich durfte ich dann mit meinem Koffer den Flughafen verlassen.
Die wirklichen Revolutionen in der Behandlung des Diabetes waren bis dahin für mich nicht erkennbar. Die zuvor genannten Glaskolbenspritzen sind Einmalspritzen gewichen und in der Entwicklung des Insulins gab es auch deutliche positive Weiterentwicklungen. Insbesondere in die Richtung, dass man flexibler mit dem Essensplan umgehen konnte und auch das Süße nicht mehr so ganz tabu war. Und das soll alles gewesen sein? Nach mehr als 15 Jahren?
Im Laufe meiner dann folgenden beruflichen Entwicklung hatte ich Gott sei Dank so gut wie nie Einschränkungen seitens meiner Arbeitgeber. Ich habe nie einen Schwerbehindertenausweis oder einen Schwerbehindertenstatus geltend gemacht. Vielleicht auch deshalb, weil ich mich nie so gefühlt habe.
2009 habe ich geheiratet und 2009 kam auch unsere Tochter auf die Welt. 2011 dann unser Sohn.
Einen Tiefschlag erlitt meine Familie, als bei unserer Tochter im Jahr 2013 mit vier Jahren ebenfalls Diabetes Typ I festgestellt wurde. Dies stellte unser Leben zugegebenermaßen ziemlich auf den Kopf. Und ich fühlte mich in dieser Situation so, wie sich vermutlich meine Eltern 1972 gefühlt haben müssen, als bei mir Diabetes diagnostiziert wurde. Besonders hart war diese Situation für meine Frau, die immer so sehnlich gehofft hatte, dass keines unserer Kinder Diabetes bekommen möge. Für sie ist in diesem Moment eine Welt zusammengebrochen.
Doch damit nicht genug. Wenige Tage vor seinem sechsten Geburtstag 2015 wurde dann auch bei unserem Sohn Diabetes Typ I festgestellt. Da brach bei uns so ziemlich alles zusammen und neben den rein physischen Herausforderungen, galt es auch die psychische Belastungssituation irgendwie wieder unter Kontrolle zu bringen. Es wäre gelogen, wenn ich hier schreiben würde, dass das einfach war. Das war es definitiv nicht, und das ist es auch bis heute nicht. Mit drei Diabetikern Typ I im Haus, ist meine Frau sicherlich diejenige, die mit Abstand am meisten darunter leidet. Ich habe vollsten Respekt vor ihr und bewundere sie für ihre Ausdauer und ihre Stärke diese Situation mit uns drei Diabe-Tigern so zu meistern. Für mich ist sie die wahre Heldin in unserer Familie!
Die wirkliche Revolution in der weiteren Diabetes-Therapie kam für mich persönlich dann erst vor rund fünf Jahren, als nach Harnzuckerteststreifen und später Blutzuckerteststreifen das Messen über Sensoren am Arm im Unterhautfettgewebe möglich wurde. Anfangs war dies eine massive finanzielle Belastung für uns, denn neben mir haben wir auch entschieden, die Sensoren bei unseren Kindern zu testen, die zu diesem Zeitpunkt noch keine Pumpe hatten. Ein Sensor kostete uns 60 Euro. Zwei pro Monat für mich, das waren schon 120 Euro und dann nochmal die Kinder dazu. Im Laufe der Zeit haben die Krankenkassen dann Gott sei Dank die Kosten für die Sensoren weitestgehend übernommen.
Meine Frau und ich, wir haben seit 2013 kaum eine Nacht durchgeschlafen, denn irgendwo piepst bei uns immer ein Messgerät oder eine Pumpe von den Kindern. Da sie das Piepsen nicht hören, stehen meine Frau und/ oder ich dann auf und veranlassen das Nötige. Auch das zehrt an den Nerven, aber es ist alternativlos und so machen wir es auch gerne.
Um auf den Anfang zurückzukommen, und die Frage nach der Liebe, der Zuneigung und dem Vertrauen zu beantworten. Ich habe meinen Diabetes nie geliebt und ich werde ihn auch nie lieben. Aber ich habe ihn akzeptiert und gelernt damit umzugehen. Mit allem was dazu gehört, und das ist einiges. (Selbst-)Disziplin ist hierbei eine große Hilfe und Erleichterung. Ebenso aber auch ein familiäres und Freundesumfeld, das einem nie den Eindruck vermittelt, irgendwie anders oder „krank“ zu sein, sondern einen so zu akzeptieren, wie man ist. Eben einzigartig, sowie alle anderen Menschen auch, egal ob mit oder ohne irgendwelche Einschränkungen.
Ich habe bis heute trotz Diabetes keinerlei diabetische Spätschäden, mein HbA1c bewegt sich in den letzten Jahren immer zwischen 6,2 und 6,8. Ach und nicht zu vergessen: ich spritze täglich mit dem Pen und habe keine Pumpe!
Was bleibt mir am Ende zu sagen. Der Diabetes fühlt sich offensichtlich wohl in meiner Familie. Das freut mich nur sehr bedingt, aber wir müssen und wir werden ihn im Sinne einer „Zweckgemeinschaft“, nicht aus Liebe (!), so behandeln, wie wir es in unserem eigenen Interesse und im Sinne zweier hoffentlich weiterer gesunder „Goldenen Hochzeiten“ erleben möchten. Ich versuche dies immer wieder auch meinen Kindern zu vermitteln. Ob sie es auch so verstehen und für sich zu nutzen wissen, wird die Zukunft zeigen.
Veröffentlicht: 2023