Sigrid Haus

(63 Jahre Diabetes)
sigrid

Ich wurde am 27.09.1942 in München – mitten im Krieg – nahe dem Wohnsitz von Hitler geboren.
Dies bedeutete, dass viele Bomben in unmittelbarer Nähe einschlugen. Meine Mutter veranlasste, mit meinen drei Schwestern zu meinen Großeltern zu ziehen, die in einem winzigen Sommerhaus am Ammersee lebten. Für uns Kinder war dies ein Paradies. Obwohl wir später die Schule nur zu Fuß bei Wind und Wetter erreichen konnten, sie war 4,5 km entfernt.

1950 zogen wir wieder nach München.

Im Herbst 1960 war ich leicht müde, hatte viel Durst und nahm an Gewicht ab (mit 18 will man ja besonders schlank sein!). Mein Glück war, dass eine meiner Schwestern als Sprechstundenhilfe arbeitete und bei meinem ständigen Durstgefühl stutzig wurde (Nur während des Schluckens verschwand dieses Gefühl!). Im Februar 1961 nahm sie dann einmal eine Harnprobe von mir mit in die Praxis. Leider fiel dieser Test positiv aus, dies hieß Diabetes. Kein Mensch aus unserer Umgebung kannte diese Krankheit auch nicht als Altersdiabetes. So kam ich über einen befreundeten Arzt ins Schwabinger Krankenhaus zu Prof. Steigerwald.

Ich hatte Glück: Ich kam in die Erwachsenen-Abteilung. Einigen Diabetikern aus der Kinderabteilung bin ich später begegnet: sie wurden damals „lockerer“ eingestellt und hatten an Spätfolgen zu leiden.
Im Krankenhaus wurde ich dann auf Depot-Insulin vom Rind eingestellt.

Die damalige Situation:
Insulin wurde damals ausschließlich in Depotform abgegeben. Andere Insulinarten gab es nicht,
nur Alt-Insulin, das war aber den Ärzten zur Behandlung von Koma-Patienten vorbehalten.
Die Spritzen und Nadeln, die man verwendete mussten „sterilisiert“ werden. Dies geschah im
Kochtopf. Folge: Kalkanlagerungen, außerdem wurden die Kanülen immer stumpfer. Von
der Dicke der heutigen Insulin- Nadeln konnte man nur träumen. Es gab keine Teststäbchen für die Zuckerbestimmung im Harn. Man musste mengenmäßig Harn sammeln. Mit einem Reagenz (Fehlingsche Lösung) konnte man dann eine wechselnde Farbe von Blau, über Grün nach Gelb im Reagenzglas sehen. Man versuchte die % -Zahl zu schätzen und rechnete sie dann auf die Tagesmenge um.
Es gab keine Blutzuckerstreifen, geschweige denn Geräte.

Der BZ wurde 1x im Abstand von 4-6 Wochen bei der ambulanten Sprechstunde getestet,
zusätzlich brachte man Messwerte (vom Harn) von zuhause mit. Ich kann mich noch gut an ein „Fallbeil“ (ich glaube dieses wurde als „Schnäpper“ bezeichnet) zur Blutentnahme erinnern.

Über 10 Jahre spritzte ich das Depot-Insulin nur in der Früh. Es war damals noch nicht bekannt,
dass der Körper auch nachts Insulin benötigt. Meine Mahlzeiten musste ich streng hinsichtlich Zeit und Menge einteilen -nach einem entsprechendem Tagesplan. An „mal so richtig ausschlafen“ war (ohne Lantus oder Pumpe) nicht zu denken.

Nach 14 Tagen wurde ich aus dem Krankenhaus entlassen und ich musste mich mit meiner Situation auseinandersetzen: Ich war froh, dass ich keine Kinderlähmung hatte (im Krankenhaus hatte ich einige Fälle miterlebt) und ich war dankbar, dass man mir den Diabetes nicht ansah, d.h. mit einem Buckel würden die Menschen gleich negativ auf mich reagieren. Zum Glück war ich auch in einem netten Freundeskreis eingebunden und meine Familie unterstützte mich. Es war auch gut, dass ich mich in einem Abnabelungsprozess befand, so dass ich gleich die Verantwortung für mich in allen Konsequenzen übernommen habe.

Ein paar Monate später machte ich Abitur, aber meine weiteren Pläne waren durch den Diabetes
durchkreuzt: Eigentlich wollte ich 1 Jahr nach Südamerika in die Entwicklungshilfe (heutzutage
wäre dies wohl möglich). So studierte ich Biologie. Da in diesem Fach damals kaum Berufsaussichten bestanden, sattelte ich nach 2 Semestern auf Pharmazie um. Ich wurde Apothekerin.

1966 war es ein großes Glück für mich, dass Prof. Dr. Mehnert als Diabetologe die Abteilung von Prof.Dr Steigerwald am Schwabinger Krankenhaus übernommen hat. Er baute nicht nur eine einmalige Diabetesbetreuung auf, sondern er war auch eine großartige Persönlichkeit mit viel Empathie. In den vielen Jahren unter seiner Führung habe ich viel gelernt und nur Positives erfahren.

1971 fand die Hochzeit mit meinem langjährigen Freund statt.

1972 kam unser Sohn auf die Welt. Leider verstarb er an einer Gehirnhautentzündung nach 6 Tagen:
Ich hatte einen Blasensprung und musste viele Stunden auf den Kaiserschnitt warten.

1975 fassten mein Mann und ich neuen Mut und waren im Dezember glücklich über die Geburt unserer gesunden Tochter.

Ich blieb weiter berufstätig. Seit 1971 habe ich einige Jahrzehnte Botanik und Drogenkunde an der PTA-Schule in München unterrichtet – mit viel Freude und Engagement.

Die Diabetologie blieb nicht stehen: Die Entwicklung von Teststreifen und -stäbchen waren eine
Wohltat. Ich kann mich an die ersten Schnelltests für Blutzucker erinnern: Da gab es eine Skala
von 50/100/300/500, da war man froh,wenn man zwischen 100 und 300 lag. Es war ein
Fortschritt!

Ca. 1970 wurde ich auf eine 2.! Spritze/Tag eingestellt. Bei den Insulinsorten entwickelte sich
auch so einiges: Ich erinnere mich an Semilente und später Lantus, letzteres war eine große
Erleichterung. Seit 2004 trage ich eine Pumpe.

Was hat mich an meinem Diabetes gestört?

1. Ich bin ein eher mathematisch denkender Mensch. Beim Diabetes muss man leider mit vielen
Unbekannten rechnen. Manchmal ist nicht 2+2= 4, sondern es kommt 5 oder 3 dabei heraus.
Ich habe lange gebraucht, die Schuld nicht bei mir zu suchen. Jetzt bin ich lockerer.

2. Ich habe zu Jugendzeiten und auch noch in mittleren Jahren gedacht, ich müsste mein “Manko“
kompensieren, d.h. ich müsste mehr leisten und geben als alle anderen. Inzwischen weiß ich,
dass dies unsinnig war.

Was hat mir der Diabetes gebracht, bzw. wo hat er mich nicht behindert?

1. Obwohl er mich immer begleitet hat, konnte ich ein glückliches und zufriedenes Leben führen.
Seit meinem 16. Lebensjahr bin ich begeisterte Skifahrerin gewesen und habe diesen Sport
Jahrzehnte lang betrieben. Wir haben viele schöne Reisen in Europa gemacht auch auf die
„wilde“ Tour. Dabei hatte ich das Insulin in einem kleinen Blechkasten (später in einer Thermoskanne),
den ich zur Kühlung in einen nassen Waschlappen einhüllte und in einem Plastiknetz mit mir trug.

2. Der Diabetes beschert einem ja auch so einige Tiefs. Ich glaube, dabei wird die eigene
Sensibilität geschärft und man versteht eher, wenn andere auch Probleme haben – dies kann nur
positiv sein. Er hilft einem vielleicht auch bei der Erkenntnis: Man kann nicht alles haben!

Heute kann ich auf ein zufriedenes Leben zurückblicken! Mein Mann und ich sind auch sehr glücklich über unsere Tochter mit Familie. Wir haben 2 gesunde und liebenswerte Enkelkinder.

Mit großer Dankbarkeit denke ich sehr gerne an Prof. Dr. Mehnert zurück, der mich Jahrzehnte begleitet hat und dem ich viel zu verdanken habe. Bis zu seinem Tod pflegte ich weiter Kontakt zu ihm zu Weihnachten und zu seinem Geburtstag.

Teilnehmer-Geschichten

IMG-20240608-WA0019

Heinz Schomaker

50 Jahre Diabetes
Bild-2

Christa Schölzel

54 Jahre Diabetes
IMG_2440

Bernhard Mattes

71 Jahre Diabetes